Es gibt Familienrezepte hinter denen sich große Geschichten verbergen. Geschichten über besondere Menschen, lange Reisen und ferne Länder, aber auch tragische Schicksale. Einem Rezept derart auf den Grund zu gehen, finde ich immer unglaublich spannend.
Die Küchlein, die ich euch heute zeige, stammen aus der Familie meiner Freundin und ich habe sie bereits als kleines Kind geliebt, wenn sie zu einem Fest gebacken wurden.
Die sogenannten "Hochzeitsküchlein" haben einen weiten Weg hinter sich und die Geschichte dazu hat mich in den letzen Tagen sehr bewegt.
Es war ein kalter Wintertag Anfang 1946, an dem die 15-jährige Oma meiner Freundin, zusammen mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester, der Mutter und Großmutter gezwungen wird, ihre Heimat zu verlassen. Das Elternhaus im damaligen "Braunseifen" (heute: Ryžoviště in Tschechien) wird sie nie wieder betreten. Es gehört ihnen nicht mehr. Mit dem, was sie tragen können, bewacht von bewaffneten Soldaten, müssen die Frauen einen Holzwagen besteigen und eine "Reise" ins Ungewisse antreten. Der Vater "ist im Krieg geblieben", erzählt mir die Oma sichtlich bewegt, als wir 73 Jahre später zusammen im Garten sitzen.
"Ich weiß noch, dass unser Weihnachtsbaum geschmückt in der Stube stand. Die Schokoladenanhänger haben wir Jahr für Jahr erneut verwendet", erinnert sie sich. "Das wussten die aber nicht!" Sie grinst und wir denken uns in diesem Moment beide, dass die alte Schokolade furchtbar geschmeckt haben muss, als der Christbaum geplündert wurde.
Am Bahnhof "Römerstadt" (heute: Rýmařov) wird sogar noch das wenige Gepäck gewogen, das die enteigneten Familien dabei haben. "Ich habe mir meinen aussortierten Koffer aber wieder zurückgeholt, als die nicht aufgepasst haben!"
Und dann beginnt sie: die Vertreibung aus dem Sudetenland. "Zusammengepfercht in Viehwaggons" geht es auf den Gleisen Richtung Westen.
Im August 1945 hatten die Siegermächte des zweiten Weltkriegs, auf einer Konferenz in Potsdam, die "humane und ordnungsgemäße Umsiedlung" aller Deutschen aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei beschlossen. "Human und geordnet" war jedoch das Gegenteil von dem, was die vielen Flüchtlinge und Vertriebenen erleben mussten.
Rund 3 Millionen Deutsche verloren ihre Heimat; viele starben auf der Flucht. Die Oma meiner Freundin hatte Glück: sie und die anderen Frauen überlebten die anstrengende und traumatische Reise, die ihr Ende in unserem kleinen Dorf in Mittelhessen fand. Hier arbeiteten die Frauen anfänglich für Kost und Logis bei Familien, die Landwirtschaft betrieben, so auch bei meinen ehemaligen Nachbarn.
"Und dann haben wir die Dorfjugend aufgemischt", sagt die Oma mit einem Lächeln im Gesicht. Neue Freundschaften wurden geknüpft und sie traf ihren zukünftigen Ehemann. Mit ihm zusammen gründete sie die Familie, die generationsübergreifend mit meiner eigenen so eng verbunden ist.
Als ich sie frage, ob sie jemals den Wunsch hatte, zurück in ihren Geburtsort zu reisen und ob sie mit der Gegend noch den Begriff Heimat verbindet, wird sie ernst: "Die wollten uns dort nicht mehr haben, also wollte ich nie wieder hin!"
Ein kleines Stück "Herkunftsland" hat sie jedoch mitgenommen in die neue, hessische Heimat. Die Hochzeitsküchlein mit verschiedenen Füllungen, gehören zu den wenigen Rezepten aus dem Altvatergebirge, die in ihrer Familie bis heute zubereitet werden.
Am liebsten mit "Flammeschmier" (Pflaumenmus) oder mit Quark und Mohn.